So sind die Deutschen

und ihre Lindenstraße

Sonntag, 18 Uhr 40. Lindenstraße zum institutionalisierten Sendetermin, Folge 740: “Wolken im Paradies”. Im Treppenhaus Lindenstraße Nummer 3 lädt Else Kling Gabi Zenker zur Eröffnung der Imbissstube ihres Sohnes Olaf ein. Schnitt. Auf der Straße vorm Haus liegt der Penner Harry mit offenem Bein neben einer Bank, Gabi will ihm helfen, bringt ihn zur Wundversorgung in ihre Wohnung. Schnitt. Die WG: Momo und seine Freundin Maria liegen im Bett, Momo weist alle intimen Annäherungsversuche zurück ...
Die Lindenstraße, mit Sonderstellung unter den deutschen TV-Serien, funktioniert nach einem Strickmuster, das sich seit 15 Jahren bewährt: Jede Folge der Lindenstraße erzählt in drei Strängen, die miteinander verwoben sind, aus dem Leben der Bewohner des Serienbiotops Münchner Lindenstraße. Das Leben seiner Bewohner zwischen Wohnung, Arbeitsplatz, Stammkneipe, Wohnstraße und Parkplatz wird mit hoher Genauigkeit, so, wie es tatsächlich stattfinden kann, abgebildet. Schon in den ersten Minuten einer Folge nehmen die Hauptthemen Gestalt an: der Kling’sche Imbiss und dessen Eröffnung, Gabi Zenker und ihre neuerliche Zuwendung zum Glauben bzw. das Liebesleben von Momo. Einer der Stränge führt ein früher aufgebautes Problem fort und bringt es zur Lösung. Das, wie es Produzent und Regisseur Geißendörfer nennt, “Verweben” der Erzählstränge, die jeweils nie mehr als zehn bis zwölf Minuten der 30minütigen Sendezeit einnehmen, zu einem “Zopf”, gelingt durch gemeinsame Lebensräume und Begegnungsstätten, wie dem Treppenhaus, die ermöglichen, die Figuren verschiedener Stränge geräuschlos zusammenzuführen. Das vierte Glied im Aufbau ist der Cliffhanger, der Spannung und Neugier auf die neue Folge schürt.
Die Lindenstraße existiert seit dem Ausstrahlungsbeginn am 8.12.1985 mit großem Erfolg. Pate für das Konzept stand die britische Serie Coronation Street, die, ebenso wie Lindenstraße, auf einen potentiell unendlichen Erzählstil ausgerichtet ist und wiederum Modellcharakter für heute inflationär produzierte Daily Soaps wie Marienhof oder Gute Zeiten – Schlechte Zeiten besitzt. Lindenstraße im 15. Jahr – und kein Ende in Sicht? Was unterscheidet die Serie von anderen? Was zieht die vielen Lindenstraßen-Fans allwöchentlich in den Serienbann?
... Gabi nimmt den Penner, nun durch den Lindenstraßen-eigenen Arzt versorgt, in ihrer Wohnung auf, ihr Mann Andy, der müde vom Taxifahren kommt, schreit nach seiner Ruhe. In der WG sitzt Klausis neueste Freundin (übrigens: VIVA-Moderatorin Aleksandra Bechtel in einer Gastrolle) auf dem Klo und redet von Sex während Momos Maria in der Wanne schmollt. Olaf und Else Kling warten in den weiß-blauen Aloisius-Stuben auf erste Kunden ...
Morgens in der Lindenstraße. Ein Donnerstagmorgen, wie jeden Sonntag. Realzeit. Die Philosophie der Zeit in der Lindenstraße entspricht in etwa der des “gewöhnlichen Menschen”. Eine Folge deckt einen 24stundentag ab, was sich zwischen zwei Folgen abgespielt hat, wird miterzählt. Selbst Jahreszeiten oder Feiertage werden beachtet, um größtmögliche Realitätsnähe zu schaffen.
... nachdem Phillip am Frühstückstisch den Brief seiner Eltern geöffnet hat und verkündet, dass seine und Momos Eltern zu Besuch kommen, flippt Momo aus (der Zuschauer weiß längst, warum) und erzählt Maria auf deren Drängen hin alles ... Im Unterschied zu den Prototypen der amerikanischen Langzeitserien wie Dallas oder Denver Clan wird in einer Folge der Lindenstraße nie eine abgeschlossene Geschichte erzählt, Enden von Geschichten füllen nie die Erzählzeit einer Folge aus, weil gleichzeitig die verschiedenen Stränge weitererzählt werden. Der Erzählstrang “Momo” eskaliert in seinem “Geständnis”, das jahrelang Zurückliegendes revuepassieren lässt: sein Vater hatte ihm die Frau ausgespannt, er hat alles nicht verkraften können, landete auf dem Strich und dann in der Psychiatrie. Seitdem impotent... Die Figuren in der Lindenstraße sind wiedererkennbar und erinnerbar. Die lange Ausstrahlung ermöglicht erst, dass sich Personen und ihre Beziehungen untereinander entwickeln können, und damit verstärkt sich das persönliche Interesse der Zuschauer an jeder Sendung. Jedesmal, wenn beispielsweise Momo seine Ex-Freundin Iffi trifft, löst das beim Beobachter eine Reihe von Assoziationen aus und die Erinnerungen an die Serieninhalte überschneiden sich mit selbst Erlebtem; Menschen wie Momo und Iffi scheinen zum Bekanntenkreis des Zuschauers zu gehören. Der realistische Eindruck des Serienlebens lässt den Zuschauer mitfiebern, Erwartungen werden bestätigt oder enttäuscht, was den emotionalen Verbund und Identifikation mit den Figuren stabilisiert. In der Serie, ebenso wie im wirklichen Leben, bildet die Familie die Kerneinheit für soziales Handeln und den Rahmen für die Darstellung allgemeiner menschlicher Konflikte.
... Andy rastet aus. Der Penner sitzt singend in seiner Wanne, seine Frau Gabi kommt mit einem goldenen Messgewand zur Wohnungstür herein und redet von Gesprächen mit ihrem Pfarrer. Bei Momo und Maria kehrt Ruhe ein. Else Kling sitzt vor einem auf dem Küchentisch aufgebauten Altar mit Kruzifix, Wachs-Maria, Bibel und Rosenkranz und fleht um Kundschaft für Olafs Imbissstube... Jede Figur der Lindenstraße hat eine Herkunft, eine Biographie und einen eigenen Verhaltensspielraum, ähnlich großer Lebensromane. Ihre Verhaltensweisen und die damit beim Zuschauer ausgelösten Emotionen schwanken um ein individuelles Gleichgewicht mit positiven sowie negativen Auslenkungen. So beispielsweise lösten die für ihren Sohn betende Kling, sonst keifende, klatschende, eher negativ belegte Figur, positive Attributionen aus. Individuelle Entwicklungspfade, die eine räumliche und z. T. relationale Nähe verbindet, werden abgebildet. Dem stetigen Zuschauer ist bewusst, wie schön das alles noch in der Beimer’schen Wohnung war, als Hansemann, Taube Helga, Marion, Benny und Klein-Klausi unter dem Weihnachtsbaum musizierten. Nun gibt es eine neue Familie, in der Hans Beimer lebt, Helga leitet ein Reisebüro und Student Klaus wohnt mit seinen Freunden in einer WG. Die Entwicklung der Personen ist in sich logisch und am Rahmen Normalzeit orientiert, eben so, wie wenn man Kinder oder Veränderungen in Beziehungen der eigenen Nachbarschaft beobachtet. Das Wahrscheinlichkeitsraster, was in der Lindenstraße für das Auftreten von Extremen, Verhalten, Entwicklungsverläufen oder Emotionen angelegt wird, entspricht der in der normalen Bevölkerung auftretenden Variation, d. h. repräsentiert zwar Typen aber keine polarisierten Extreme. Die Figuren sind Prototypen des deutschen Alltags, ihre deutsche Identität entspringt gerade aus der zwingenden Abgrenzung voneinander: Keiner will so sein, wie der andere, der seinerseits scharf und neugierig betrachtet wird.
Die Lebensläufe der Lindenstraßenbewohner vollziehen sich im Bezug zu sozialen und gesellschaftlichen Wandelprozessen (wie z. B. die Wiedervereinigung), im großen Unterschied zu anderen deutschen Serien, welche hauptsächlich Beziehungsprobleme und intime Verhältnisse thematisieren. Dramaturgische Prinzipien hierfür sind das Verarbeiten von Themen der Gesellschaft wie AIDS, Neonazis, etc., ein sozialkritischer Blick auf die Wirklichkeit und sog. Aktualisierungen. Beispiel in Folge 740: ... Gabi Zenker vergleicht Andy, der den Penner aus der Wohnung haben will, mit Haider, der Österreich von den Ausländern “reinigen” will... Insgesamt wirken derartige Einschübe zwar sehr bemüht, setzten jedoch konsequent das genannte Konzept um.
...Abend. Olaf zählt sein Geld. 26,80 DM Tageseinnahmen. Da kommt das mütterlich erbetene Wunder in Gestalt der Wandergruppe Eiffelsplatz – Schweinshaxen, Brezen, Leberkäse und die Tageseinnahme des Eröffnungtages ist “durch Gottes Segen” gerettet. Schnitt. Momo und Maria gehen spazieren, Maria will nun zielstrebig die Sache mit der Impotenz durch eine Konfrontation mit Momos Vater lösen. Momo ist dazu keinesfalls bereit. Schnitt. Die Zenker-Wohnung: Gabi und Andy streiten sich. Über Gabis Samaritertum und dann ... Gabi hat das gesamte Geld des verstorbenen Sohns Max gespendet. Fürs neue Haus des Kinderheimes. Andy Zenker sieht rot, fühlt sich übergangen, schreit und will nun, notfalls vor Gericht, die 250.000 DM zurückholen. Close up auf Gabis Gesicht. Abspann. Was nun passiert, werden wir entspannt im Sessel miterleben. In der nächsten Folge der Lindenstraße ...

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