But what are we?

Mexiko weist eine der höchsten Kriminalitätsraten weltweit auf. Entführungen zur Gelderpressung und Morde durch sich bekriegende Drogenbanden gehören zu den täglichen Nachrichten aus dem Land. Dass die dort vor allem in den Städten um sich greifende allgemeine Angst einen kulturellen Ausdruck im Horrorfilm finden würde, war nur eine Frage der Zeit; dass sich daraus allerdings ein Film wie „We are what we are“ entlädt, erscheint schon als Überraschung, denn die Gewalt und das Elend werden hier in einer ganz anderen Soziosphäre identifiziert, als man es erwarten würde: in der Familie.

Die betreffende Familie wird gleich zu Beginn des Films vaterlos: Ein recht heruntergekommener Mann bricht in einem Einkaufszentrum zusammen, erbricht schwarzes Blut und stirbt. Sofort eilt Reinigungspersonal herbei, das den Leichnam fortschafft und den Fußboden reinigt. Kurze Zeit darauf findet ein Gerichtsmediziner im Magen des Toten einen Frauenfinger. Kannibalismus gehört ihm zufolge zu den täglichen Mordmotiven in Mexiko-Stadt. Im Umschnitt sehen wir in einem düsteren Haus voller reparaturbedürftiger Uhren eine ausgemergelte Frau und drei heranwachsende Kinder, die vergeblich auf die Heimkehr des Vaters warten. Er sollte neues Fleisch für „das Ritual“ mit nach Hause bringen, seine fatale Leidenschaft für Prostituierte hat ihn jedoch das Leben gekostet. Nun ist die Frage, wie es weitergeht, wer zum neuen Familienoberhaupt wird und auf welche Weise ein Opfer für das genannte Ritual beschafft werden kann. Der introvertierte älteste Sohn entscheidet sich, das Kommando zu übernehmen und damit beginnt der Niedergang der Familie, denn auch er hat seine Begierden nicht unter Kontrolle.

Jorge Michel Graus fünfter Spielfilm bleibt bis zum Schluss ein Rätsel. Er erzählt eine niederschmetternde Geschichte aus einer scheinbar anderen Welt. In dieser Welt ist ein Menschenleben nichts wert, die Polizei nur gegen Bestechung an der Aufklärung von Verbrechen interessiert und der Hunger derartig groß, dass gesellschaftliche Tabus keine Rolle mehr spielen. In dieser Welt wachsen die drei Geschwister heran, die von Beginn an mit dem Elend der Existenz konfrontiert sind. Und doch geht es ihnen besser als all den Straßenkindern, denn sie gehen einer Beschäftigung nach und verdienen Geld zum Familienunterhalt dazu. Wie instabil ihre Existenz dennoch ist, zeigt sich gleich zu Beginn des Films, denn von der Heimkehr des Vaters hängt der Fortbestand der fragilen Gemeinschaft ab. Die Mutter hat nichts als Angst und Aggression für ihre Kinder übrig. Die Zerfleischung der Anderen ist hier längst zum Sinnbild für die Selbstzerfleischung geworden.

„We are what we are“ kündigt schon im Titel an, dass er keine Erklärungen für das, was der Zuschauer im Film zu sehen bekommt, liefern werden wird. „Das Ritual“ ist ein kannibalistisches, warum ihm allerdings eine solch existenzielle Bedeutung von den Familienmitgliedern zugeschrieben wird, wird zu keiner Zeit erklärt. Allenfalls, dass es einen Rest von Gemeinsamkeit stiftet, wird nahegelegt, denn als sich immer deutlicher abzeichnet, dass es kein weiteres Ritual geben kann, fallen die Familienmitglieder zuerst übereinander her, bevor ihre labile Struktur endgültig zusammenbricht. Graus Film wird in all seiner Fragmentarität zu einem eindringlichen und bedrückenden Sinnbild für die soziale Katastrophe in den Großstädten Mexikos; der Kannibalismus ist das treffendste Bild für eine Gesellschaft, die sich im dichten Gedränge selbst zerfleischt. Die Erwartung, einen konsistent logisch aufgebauten Horrorfilm präsentiert zu bekommen, wird auf die angenehm-unangenehmste Weise enttäuscht. Was „We are what we are“ wirklich ist, fällt einem vielleicht erst lange Zeit nach dem Ende des Films auf.

We are what we are
(Somos lo que ha, Mexiko 2010)
Regie & Buch: Jorge Michel Grau; Musik: Enrico Chapela; Kamera: Santiago Sanchez; Schnitt: Rodrigo Ríos
Darsteller: Adrián Aguirre, Miriam Balderas, Francisco Barreiro, Carmen Beato, Alan Chávez u.a.
Länge: 90 Minuten
Verleih: N. N.

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